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Now and Then: Von Überbehütung und falscher Sorglosigkeit

Und plötzlich ist er wieder ganz klein. Kommt zu uns ins Schlafzimmer und möchte zwischen uns im Bett liegen. Weil er nicht schlafen kann und unsere beruhigende Nähe sucht.

Es dauert nur wenige Minuten und da ist er eingeschlafen. Wohlbehütet zwischen Mama und Papa, die eben doch manchmal noch Halt und Trost geben müssen. Obwohl er schon so groß ist. Mein größtes Baby. Mein Zehnjähriger.

Doch heute war auch ein harter Tag für ihn. Wir haben ihm etwas zugemutet. Bewusst. Weil wir ihm es zugetraut haben und auch einer solchen Situation “aussetzen” wollten. Weil es zum Leben, aufwachsen und den-Gang-der-Dinge-verstehen einfach dazu gehört.

 

Im Gegensatz zu seinen zwei jüngeren Geschwister-Mädels durfte er uns auf die Trauerfeier unserer Bekannten begleiten. Wir hätten auch die anderen beiden Kinder mitgenommen. Doch zeigte sich schnell, dass die Kleinste mit der Situation noch zu überfordert war. Musste sie noch immer die Botschaft verarbeiten. “Ich wollte doch noch Tschüss sagen” platzte es unter Tränen aus ihr heraus. Too much für eine Vierjährige und somit kein Gottesdienst. Die Mittlere hatte eine Spielverabredung auf die sie sich sehr freute, das konnten wir ihr nicht verwehren.

Aber unser großer Junge. Er war bereit einen Abschied, der ihm bislang noch unbekannten Art und Weise, erleben zu dürfen. Und da saß er neben mir. Kämpfte mit den Tränen, immer darauf bedacht sich zu beherrschen. So war er schon immer. Dabei wünsche ich mir seit eh und je, er würde seinen Gefühlen einfach mal freien Lauf lassen. Er war still, in sich gekehrt, die Augen nass. Aber es war wichtig! Es war auch genau das was er sich selbst gewünscht hatte. Uns begleiten und Abschied nehmen.

Und so kommt mir nun der Gedanke. Mitten in der Nacht:

Vielleicht könnten und sollten wir ihm noch viel mehr zutrauen?

Auch wenn er nun für diesen Moment wieder unser Baby ist. Aber er ist zehn! Und noch immer versuche ich ihn vor allem fern zu halten! Ich kann es selbst nicht steuern. Es ist tief in mir drin. Das Bedürfnis meine Babies vor allem Unheil zu bewahren. Ein übertriebendes Bedürfnis? Gerade in der heutigen Zeit? Der Zeit der Helikopter-Moms und späten Mutterschaft? Das war doch nicht immer so?

Und ich fange an über meine eigene Kindheit zu sinnieren.

Kommt es nur mir so vor, oder waren wir alle früher einen Tacken weniger behütet und somit auch viel mutiger? Was habe ich früher alles angestellt! Mit zehn!

IMG_20180106_133255977Das fing schon im Kindergartenalter an. Ich und meine Freundin aus der Nachbarschaft liefen alleine in den Kindergarten! Heutzutage undenkbar! Gut, wir mussten keine einzige Straße überqueren. Ein Fußweg führte direkt durch ein kleines, eingezäuntes Wäldchen von unserer Straße zum Kindergarten! Aber hätte ich das meinen Kindern jemals zugetraut? Heute vermuten wir Eltern doch hinter jedem Strauch den gemeinen Triebtäter oder gar den weißen Kastenwagen an der Straßenecke!

Wie ist es dazu gekommen? Ist die Welt wirklich so schlimm geworden oder sprach nur damals keiner von solchen Dingen?

Ein Schauer läuft mir den Rücken herunter bei dem Gedanken was uns hätte passieren können. Und zu welchen Blödsinns-Taten diese uns anvertraute frühe Verantwortung und Freiheit leitete. Selbst im Gebüsch haben wir uns einen langen Vormittag versteckt und einfach den Kindergarten geschwänzt! Was müssen unsere Mütter für Ängste ausgestanden haben bis sie uns letztendlich fanden! Waren unsere Mütter damals blauäugig, naiv oder gar geblendet und blind vom falschen Vertrauen? Oder sind wir Mütter von heute nun der Extremfall? Ist es diese ansteckende Panikmache? Ich weiß es nicht.

Fakt ist nur: Wir bauten damals geheime Höhlen und schlugen uns die Knie auf. Jeden Tag! Und jetzt? Lasse ich meinen Großen noch immer nicht alleine durch die Natur streifen. Aus Angst! Aus übertriebener Fürsorge? Ich bremse ihn womöglich aus und lasse keinen Raum zum Mutig-werden und Erfahrungen-sammeln.

Aber haben unsere Kinder heutzutage überhaupt noch so etwas wie Abenteuerlust, Phantasie und Sinn für Kreativität?

Zumindest was das “draußen sein” betrifft? Sind sie vielleicht gar nicht durch uns Mütter sondern vielmehr von PS4 und Co. ausgebremst? Die meisten Abenteuer spielen sich ja im Winter nur dort ab und Kreativität bedeutet nicht viel mehr als Minecraft-Türmchen zu bauen.

Und dennoch kann ich ihm nicht die Freiheit schenken und ihn ziehen lassen.

Ich musste immer zur Schule laufen! Aufgrund ihrer Erkrankung besitzt meine Mama bis heute keinen Führerschein. Und ich? Setze alle Kinder direkt vor der Schule ab. Teilweise mehrmals am Tag! Und raube mir somit selbst meinen Freiraum!

Ich mache mir hausgemachten eigenen Stress! Durch meine Fürsorge und das fehlende Vertrauen! Aber gibt es überhaupt so etwas wie übertriebene Fürsorge?

Nicht mal mit dem Fahrrad darf er zur Schule fahren. Der arme Kerl! DAS muss sich ändern! Ich möchte nicht mehr warten bis er den “Fahrrad-Führerschein” hat. Denn der wird erst gegen Ende des vierten Schuljahres gemacht! Dann wenn’s eigentlich zu spät ist, um alleine mit dem Rad in die Grundschule zu fahren! Warum trauen wir so etwas unseren Kindern nicht früher zu? Warum wird das so spät gemacht? Genau so wie Schwimmunterricht! Meine großen Kinder schwimmen seit sie fünf sind, haben beide schon Silber! Immerhin: DA war ich mal nicht ängstlich. Aber noch immer gibt es gleichaltrige Kinder, die nicht schwimmen können! Warum? Aus Gleichgültigkeit? Aus übertriebener Angst? Die müsste doch aber so -mit einem Nichtschwimmer-Kind- viel größer sein! In der nächsten Freibad-Saison darf unser dann Elfjährige alleine ins Schwimmbad gehen. Mit dem Fahrrad! So viel steht schon mal fest!

Warum ist das heute so? Und ist das wirklich gut?

Kinder sind heute unsere Vorzeige-Projekte geworden. Unsere Meisterleistung. Bei dem selbst -oder durch die Gesellschaft auferlegten- Stress wundert’s mich nicht, dass viele Kinder Einzekinder bleiben. Die Energie reicht bei dem Wahnsinn einfach nicht für mehr.

Vielleicht profitieren die Kinder mit Geschwistern davon, dass Mutti sich keinen völlig übertriebenen Perfektionismus und Protektionismus leisten kann. Auch wenn die Sorge natürlich und gut ist, an manchem Stellen ist sie vielleicht auch manchmal unnütz.

Ich denke an früher, als die kleine “Sandra” (so nannte mich meine Mama damals) mit DEM Alex im Gebüsch irgendwo in der Nachbarstraße verschwand. Unauffindbar für die Mama. Ei! Der hatte halt ein rotes Kettcar! Machen das meine Kinder? Nein! Die sind viel weniger “schlimm” !

Sonntage habe ich alleine zu Hause verbracht. Mit zehn. Weil ich nicht mit den Eltern zum Wandern wollte. Im Nachhinein: Ja! Es war furchtbar für mich. In Zeiten ohne Handy! Nie zu wissen, wann das Auto der Eltern endlich wieder um die Ecke biegt! Keinen Kontakt zu haben sollte etwas sein! Unvorstellbar heutzutage! Ehrlich gesagt, das könnte ich niemals mit meinen Kinder machen! Die selben Eltern sagen mir übrigens heute, ich dürfe den Zehnjährigen nicht länger als zwei Stunden alleine zu Hause lassen, derweil ich Englisch Kurse in der Kita gebe!

Ich hatte früher tagelang mit gebrochenem Finger oder gar einer Lungenentzündung verbracht bevor meine Eltern überhaupt mit mir zum Arzt gegangen sind. Hier ist meiner Meinung nach definitiv von falscher Sorglosigkeit zu sprechen. Aber ich möchte nicht urteilen. Das war damals halt einfach normal!

Und was mach ich? Hab ‘ne riesig gefüllte Hausapotheke, schreib Fieber-Protokolle (!) und fahr’ lieber einmal zu viel mit dem Nachwuchs zum Arzt!

Aber will ich mich ändern? Will ich über meinen eigenen Schatten springen, lernen zu vertrauen und meinen Kinder endlich die Flügel geben?

Ich glaube, das möchte ich gar nicht. Noch nicht. Noch streichel’ ich über den Kopf des großen Kindes in meinem Bett. Küsse die Stirn. Er merkt’s ja gerade nicht 😉

Ich möchte meine Kinder behüten und schützen. Vor allem Unheil bewahren solange es mir möglich ist.

Aber ich will versuchen sie nicht auszubremsen. Ihnen keine Freiheiten und Erfahrungen verwehren, wenn sie danach fragen. Ich möchte lernen meinen Kindern auch zu vertrauen und ihnen nicht hinterherrufen sollten sie tatsächlich mal wieder die Äpfelbäume hinaufklettern wollen. Oder Höhlen bauen.

“Helikopter-Mom”. Ich hasse diesen Scheiß-Modebegriff!

Und doch hat er mich so genannt. Der Große. Neulich. Als er mit dem Fahrrad zu Schule fahren wollte. Morgen früh schick ich ihn raus in den Schuppen! Zum Luft aufpumpen und Sattel putzen! Dann darf er üben und Probe-Strecken fahren.

Aber bis dahin: Drück ich mein Baby ganz feste an mich und bin für ihn da. Nicht nur heute Nacht. Wann immer er danach fragt.

Behütete Grüße!

Eure 

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