(…denn die schärfsten Kritiker sind wir selbst) Der Himmel leuchtet an diesem Morgen in seinem tiefstem Blau, Blüten im schönstem Gelb und Rosa zieren Bäume und Sträucher.
Die Sonne wärmt – nach vielen Wintermonaten – endlich wieder und weckt zarte Erinnerungen.
An Leichtigkeit und laue Abende, an flatternde Röckchen und kaltes Nass.
Fast schon kann ich die Sandkörner unter den Füßen spüren und das Salz auf der Haut riechen, spüre den Wind, höre das Meer.
In Gedanken trinke ich süßen Wein und creme warm-glühende Haut.
Und eigentlich kann ich es kaum erwarten, bis der Frühling nicht nur erwacht, sondern bleibt und in einen wundervollen Sommer – meine liebste Jahreszeit – mündet.
Es könnte so schön werden, so wunderbar!
Ein Teil meiner Gedanken fühlt und spürt bereits jene Vorfreude, die Gier und Sehnsucht, das Verlangen nach schöneren Zeiten, nach Lebendigkeit, nach Leben.
Doch ist es auch das lang-ersehnte Sonnenlicht, welches in gleicher Weise diese anderen Gedanken in mir hervorruft.
Jedes einzelne Jahr, erwacht das Leben um uns herum wieder – und Menschen strömen freudig und ungedudig nach draußen.
Und fast wage ich zu behaupten, es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. #derlaufderzeit
Die schärfsten Kritiker sind wir selbst
Ich stehe vor dem Badezimmer-Spiegel, nackt, und Sonnenstrahlen fallen hart.
Gnadenlos beleuchten sie diese Hülle meins ICHs.
Sechsundvierzig Jahre blicken mir aus dem Spiegel entgegen, nicht mehr der Körper einer Mittzwanzigerin – und auch nicht mehr die Haut, welche man sich doch zum Frühlingserwachen wünscht!
Da stehe ich also, die Haare noch zerzaust vom Schlafen, nicht ganz glatt aber auch nicht richtig gelockt, etwas zu strohig, störrisch.
Wild – aber nicht gekonnt verwegen.
Ich blicke auf winterblasse, fahle Haut und dunkle Schatten unter den Augen und zähle rote Punkte am früher doch so makellosen Bauch.
So viele davon, so sehr, dass ich des Zählens schnell müde werde.
Garstig und gemein lassen die frühlingshaften Sonnenstrahlen Risse unterhalb des Nabels zum Vorschein treten, die Zeichen dreier übertragener Kinder.
Eine klitzekleine Narbe ziert den operierten Bauchnabel.
Eine weitere, unterhalb und auf der linken Seite zeugt vom ersten Bauchdeckenbruch, lange vor den Kindern schon.
Der Bauch ist mir gerade zu weich, nicht bereits vorzeigbar für den Bikini – die Brust ein wenig zu groß, nicht passend für das Oberteil.
Und ich fange an, mich ob lächerlichen (das realisiere ich natürlich in jenem Moment nicht) zwei Kilogramm zu kritisieren.
“Ich muss noch mehr Sport machen”,
schießt es mir durch den Kopf.
“‘Ab jetzt keinen Tag mehr Pause”
“Und ich kaufe keine Nachos und Schokolade mehr! Ich bin alt! Wer bin ich schon, wenn ich nicht schlank bleibe?”
“Wenn ich schon das Altern nicht kontrollieren kann, so soll es mir zumindest mit dem eigenen Gewicht gelingen!”
hämmert es in meinem Kopf.
Denn die Spuren einer Magersucht verschwinden nie ganz.
Eine große, neue und verschlängelte Krampfader ziert die Innenseite des Oberschenkels, die Sonnenstrahlen fallen genau da drauf, pointen hämisch grinsend auf meinen eigenen Verfall und die Vergänglichkeit.
Weitere dieser Adern finden sich an den Waden, und sind sie es nicht selbst, so zieren viele, kleine Verästelungen (ich weiß, dass man sie Besenreiser nennt 😉 ) die Beine.
Die Beine, die doch früher mein ganzer (!) Stolz waren!
Sie sind nicht mehr jung, es sind die Beine einer Mittvierziger Frau – mehr sogar, denn gegen einige Schwachstellen helfen nicht einmal die vielen Stunden Sport.
“Ich muss mich endlich wieder operieren lassen, wie konnte ich nur so lange warten!?”,
verurteile ich mich selbst.
“JEDER wird es im Sommer sehen!”,
tönt es in meinem Kopf.
Als ich mir die Haare hochstecke, fällt mein Blick auf die Schulter und den Hals. Und mir kommen die Tränen.
Wie verunstaltet kann man aussehen!?
Kein Wunder, dass sich so viele Menschen davor erschrecken.
Ich sollte besser doch nicht dazu stehen (DOCH verdammt! Das KANN und SOLLTE und WILL ich!!!) – ich sollte alles überschminken.
Dick und kräftig – jeden einzelnen Tag.
Aber möchte ich WIRKLCH einen Teil von mir verstecken?
Erst vorgestern musste ich erklären und mich rechtfertigen, musste dem entsetzten Blick dieser anderen Frau ausweichen.
Bin ich ekelhaft!? Abstoßend?
Vielleicht zeigt mir der Spiegel an diesem Morgen wirklich einen vielleicht lieben Menschen – aber eben keine schöne, begehrenswerte Frau mehr?
“Kein Wunder, dass er Dich nicht mehr sieht.”
sticht es irgendwo tief in mir drinnen – und abermals halte ich Tränchen zurück.
Wann bin ich nur so alt geworden?
Warum fürchte ich den Sommer auf einmal und die Tage im Freibad, die mir doch die liebsten, die schönsten sind!?
Warum ist es jedes verfluchte Jahr zum Frühjahrsbeginn dasselbe?
Und geht es nur MIR so? Oder vielleicht vielen anderen Frauen auch?
Warum bin ich mein härtester, mein schärfster – mein gemeinster! – Kritiker?
Ein Wertvoller Mensch im Bikini. PUNKT!
Wieso sehe ich an diesem Morgen nicht die hübsche und (für ihr Alter – haha) attraktive Frau, die da noch immer ist?
Sportlich und fit, mit Muckis an den Beinen und immer noch einer hübschen Figur?
Warum sehe ich Hasenzähne und eine lange Nase, statt ein natürliches (vielleicht sogar witziges und lustiges?) Lächeln?
Wieso bin ich in diesem Augenblick nicht verdammt nochmal stolz auf diesen Körper und alles – alles! – was er bislang gemeistert und wieder geschafft hat?
Auf überstandene und längst verziehene Schmerzen – und darauf, wie gut er noch immer funktioniert und mir Tag für Tag treue Dienste leistet, mich für meine Kinder da sein lässt?
Warum freue ich mich nicht über die FRAU im Spiegel?
Die Frau, die noch immer lieben und genießen (ich darf das nicht weiter ausführen, gibt zu viele garstige und komische Menschen da draußen) kann!
Und vor allem die FRAU, die verdammt und zugenäht auch noch mit Achtzig ihren Bikini tragen wird!!!
Vollster Stolz und weiser Lebenserfahrung.
Mit all’ den Narben, die Geschichten erzählen, mit neuen und entfernten Krampfadern, mit Punkten und Kratzern und Adern und Falten und Flecken – so viele, dass ein ganzes Universum nicht dafür ausreichen würde.
Mit so viel Liebe für die eigenen Kinder (und Enkelkinder?) und vielen gekitteten Seelennarben.
Mit einem Herzen, vielleicht ein paar Mal ein klein wenig gebrochen, einem zusammengesetzten Mosaik – bunt, leuchtend und wunderschön.
Mit Bauch und runzeliger Haut – aber mit so viel Leben und Demut im Herzen!
Und mit den Dingen und Werten und Gedanken im fucking Bikini, die wirklich SCHÖN sind.
Ich klappe den Spiegel zu, verlasse das Bad – und fang’ an zu LEBEN.
(…okay…vielleicht ziehe ich mich vorher noch an 😉 )
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